Über den Fluch im Homeoffice zu arbeiten
Während der Pandemie arbeiteten zur Spitzenzeit im Februar 2021 in Deutschland fast die Hälfte (49 Prozent) der abhängig Beschäftigten im Homeoffice. (Studie des IWKoeln)
Und nicht für alle ist dies ein Segen. Wenngleich es einige gibt, die mit der Homeoffice-Situation voll und ganz zufrieden sind, soll es heute in diesem Artikel um die Schattenseiten des Homeoffice gehen. Denn a) nicht für alle Menschen ist Homeoffice das Richtige und b) im Homeoffice zeigen und verstärken sich Schwachstellen persönlicher oder struktureller Natur und c) im Homeoffice fehlt einem das „Lernfeld Büro“.
1. Wahrheit: Das Büro als Lernfeld verschwindet
Leute und Situationen lesen im Präsenzmeeting
Wer bereits viel Erfahrung im Büro in Präsenz sammeln konnte, kennt sie – die Statusspiel. Man sitzt zusammen in einer Besprechung und kann durch Körperhaltung, Mimik, Gesten und Worte beobachten, was da gerade abgeht. Wer das Sagen hat, wer in welcher Beziehung zu anderen steht usw. Ein gutes altes Präsenzmeeting gibt uns also die Möglichkeit zu beobachten und aus der Interaktion zu lernen. Das hilft einem, sich mit einer Unternehmenskultur vertraut zu machen und zu erkennen wie die Rangordnung ist. Aber auch um zu gucken, wer welches Ansehen genießt. Diese Beobachtungen helfen, um sich besser in einer Gruppe (Gesellschaft) zurecht zu finden und den sozialen Codex zu verstehen. Diese Möglichkeit kann eine Videobesprechung nicht bieten. Denn hier sehen wir nur einen Ausschnitt einer Person. Wir können das Verhältnis der Menschen in einem Meeting untereinander nur schwer erkennen und deuten.
Die Vorteile eines inoffiziellen Nachmeetings
Was einige sicher noch kennen ist das „Ich komm‘ noch kurz mit zu dir ins Büro“ nach einem Meeting. Hier findet die inoffizielle Nachbereitung des Meetings statt. Beobachtung und Wahrnehmung werden miteinander abgeglichen. Hier holt man sich Bestätigung der eigenen Wahrnehmung oder bis dahin nicht bekannte Zusatzinformationen ab. Das heißt hier bietet sich die Möglichkeit situativ das Erlebte zu verarbeiten. Dinge, die einen beschäftigen lassen sich im direkten Kontext klären und führen zu psychischer Entlastung. Das lässt sich nach Onlinemeetings selbstverständlich auch vereinbaren, jedoch bedarf es da eines Planungsschrittes, nämlich der Verabredung, wohingegen eine Nachgespräch im Büro meistens ungezwungen beim Verlassen des Meetings entsteht. Das inoffizielle (Nach)Meeting dient also der Beziehungspflege, dem Meinungsaustausch, dem Weiterentwickeln von Ideen und der Verarbeitung von Frust.
Lernen wie das Unternehmen lebt
Wer seinen Job während der letzten zwei Jahre begonnen hat, hat vermutlich noch wenig informelle Informationen zugetragen bekommen. Und mit informell ist nicht nur der normale Klatsch und Tratsch gemeint, sondern die Art, wie das Unternehmen tickt. Welche Sprache wird hier gesprochen, was ist für dieses Unternehmen üblich? Ich wette viele haben schon einmal diesen Satz gehört „Das ist historisch gewachsen“. Das muss nicht bedeuten, dass man manche Dinge gut findet, aber zumindest versteht man sie dann. Es sind die kleinen Informationen, z.B. warum jemand ein Modell von einem Segelschiff in seinem Büro stehen hat, warum Reisekosten erst vom Chef abgezeichnet werden, bevor sie in die Buchhaltung gelangen, warum (m/w/d) Schneider nicht mit (m/w/d) Müller kann … Es geht also um das Unternehmen als lebenden Organismus mit einer Vergangenheit, die sich auch in der Gegenwart zeigt. Und natürlich gegenwärtige Momente, die widerum irgendwann selbst Geschichte schreiben. Zum Beispiel legandäre Weihnachtsfeiern, fröhliche Sommerfeste, das Meeting des Grauens und all die weiteren Gelegenheiten an denen sich die Kultur eines Unternehmens zeigt.
„Videokonferenzen und Mail-Kontakt reichen offenbar nicht aus, um ein kollektives Gemeinschaftsgefühl zu schaffen“, wird Hannes Zacher in einem Artikel der Wirtschaftswoche zitiert.
Informelle Kommunikation – jeder Gedanke wird schwarz auf weiß festgehalten
Informelles wird plötzlich formell. Dadurch dass das kleine Flurgespräch entfällt, werden lose Gedanken, noch nicht zu Ende Gedachtes, plötzlich in einer Nachricht oder E-Mail formuliert. So entfällt die Möglichkeit einfach mal spontan Dinge auszusprechen. Dafür erhöht sich zum einen die Menge an Nachrichten und zum anderen die Geschwindigkeit, mit der neue Informationen eintreffen. Während erster Punkt genauso Vorteile wie Nachteile birgt, entsteht aus dem zweiten Punkt ein potenzieller Stressor. Wieder etwas, zu dem man sich eine Haltung überlegen muss und eine Angewohnheit prägen muss. Nämlich wann und wie beantworte ich meine Nachrichten und E-Mails.
2. Wahrheit: Niemals Feierabend
Im Homeoffice ist für viele niemals Feierabend. So gleicht jeder Tage dem anderen und ist ein nicht endenwollender Arbeitstag. Das gilt immerhin für 25% der Befragten (KKH 02/2022), die das Gefühl haben im Homeoffice noch mehr leisten zu müssen, weil die üblichen Präsenzrituale wegfallen. Gleichzeitig verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit. Vom Bett aus geht es direkt an den Schreibtisch, das Handy ist immer an und E-Mails werden rund um die Uhr bearbeitet. Das führt zu chronischer Erschöpfung, Rückenschmerzen und anderen Symptomen. (s.u.)
Ein weiterer Grund ist aber auch die Veränderung des Tagesziels. Während im Büro für viele Menschen das Tagespensum geschafft ist, sobald die Arbeitszeit um ist, verhält es sich zu Hause anders. Hier fokussieren sich viele auf Aufgaben und Ergebnisziele. Sie nehmen sich etwas Bestimmtes für den Tag vor und verlieren dabei dei Zeit aus den Augen. Das heißt der Arbeitstag ist erst dann erledigt, wenn ein bestimmtes Ziel erreicht wurde. Entsprechend gibt es hier zu lernen, dass nicht jede Minute des Arbeitstages – also der offiziellen Arbeitszeit – effizient genutzt werden muss. Es muss in einem Teammeeting auch den privaten Austausch geben, ohne dass er als nicht produktive Zeit innerlich rausgerechnet wird. Denn auch das gehört zur Arbeit. Die Beziehungspflege durch private Gespräche und damit die Steigerung des Wohlbefindens.
3. Wahrheit: Frauen und Singles sind die Leidtragenden
Laut einer aktuellen Umfrage der KKH machen Frauen zwei Drittel der von psychischen Erkrankungen betroffenen Berufstätigen aus. Eine Begründung hierfür liegt darin, dass sich meistens die Frauen und Mütter neben ihrem Job um Haushalt und Kinder kümmern. Insbesondere während der Lockdownphasen wurde dies für Mütter zur Belastung als Kitas und Schulen geschlossen waren.
Die Hans Böckler Stiftung untersucht seit vielen Jahren das Thema mobile Arbeit, entsprechend auch schon lange vor der Pandemie, als Homeoffice in vielen Unternehmen noch nicht möglich oder denkbar war. Sie kommt in einer Studie von 2021 zu folgenden Ergebnissen. Während Mütter im Homeoffice mehr Zeit für die Kinderbetreuung aufbringen, machen Väter im Homeoffice mehr Überstunden, wenden aber keine zusätzliche Zeit für die Kinderbetreuung auf. „Viele Beschäftigte arbeiteten vor Corona aufgrund von Barrieren, die sich aus der Unternehmenskultur ergeben, nicht von zu Hause. Ein Recht auf Homeoffice würde vor allem Frauen helfen.“ (Studie Hans Böckler Stiftung 2021), was meines Erachtens unter Gesichtspunkten der Geleichberechtigung eine sehr eigentümliche und kontraproduktive Aussage ist. Denn gleichzeitig bestätigt eine andere Veröffentlichung der Hans Böckler Stiftung, dass das Homeoffice die ungerechte und tradierte Arbeitsteilung stärkt und hierfür neue Regeln gefunden werden müssen. Die höhere Belastung im Homeoffice betrifft jedoch nicht nur Mütter, sondern Frauen im Allgemeinen, die im Homeoffice mehr Sorgearbeit übernehmen.
Seelisch belastend ist dieses Situation außerdem für Singles. Ein wichtiger Pfeiler für das psychische Gleichgewicht fehlt ihnen, durch den mangelnden sozialen Austausch. Das Gefühl von Zugehörigkeit und sozialem Austausch gehört zu den wichtigen Faktoren für psychisches Gleichgewicht.
Liste negativer Folgen im Homeoffice
- Rückenschmerzen
- Muskelverspannungen
- Nacken-, Schulter- und Rückenbeschwerden
- psychische Belastungen
- Niedergeschlagenheit
- Depression
- Antriebslosigkeit
- Schlafprobleme
- psychischer Druck und Stress
Kurzes Zwischenfazit
In den zitierten Studien war die Anzahl der Menschen, die eher zufrieden oder sehr zufrieden im Homeoffice sind fast gleichrangig zu denen, die sich durch das Homeoffice belastet fühlen. Immerhin gibt es jedoch kleinere oder größere Belastungen bei der anderen Hälfte der vom Homeoffice betroffenen Personen. Wichtig ist es eine Belastung auf der einen Seite nicht als unbedingtes Kriterium gegen das Homeoffice zu sehen (falls eine Wahl wieder möglich sein sollte), sondern sie zu erkennen, anzunehmen und zu schauen, was sich verändern lässt. Und auf der anderen Seite, sollte diese Belastung nicht einfach so „kleingeredet“ werden.
Neben dem Wunsch nach Wahlmöglichkeit, den viele hegen, wenn es um den mobilen Arbeitsplatz geht, sollten die positiven Stimmen nicht stärker gewichtet werden als die Stimmen, die sich im Homeoffice nicht gut aufgehoben fühlen und leiden.
Es ist okay mit dem Homeoffice nicht klar zu kommen!
Immerhin handelt es sich bei dieser Maßnahme um eine chronische Belastungskrise. Wenn es sich zuerst noch wie etwas angefühlt hat, das einfach sein muss und das man schon irgendwie hinkriegt, zeichnet eine chronische Belastungskrise aus, dass die Dauer der Maßnahme die Ressourcen auffrisst. Es ist wie ein Schmerz, den man vorübergehend mal aushalten kann oder ausblendet, aber der eben auf Dauer an Penetranz zunimmt.
Was hilft gegen den Stress und Blues im Homeoffice
Auf organisationaler Ebene
Hierzu hat die KKH eine Empfehlung die sich insbesondere an die Unternehmen richtet, die auch nach der Pandemie vermehrt mit Angestellten im Homeoffice rechnen müssen. Sie rät zur Aufnahme des Themas in die Betriebliche Gesundheitsförderung, wie zum Beispiel durch Arbeitsplatzgestaltung, Stressreduktion u.a..
Auf individueller Ebene
Auch wenn Betriebsvereinbarungen und Konzepte das Wohlergehen im Homeoffice sichern sollen, kann die Verantwortung für dieses Thema nicht komplett in die Hände der Unternehmen gegeben werden. Denn sie haben nicht alles so im Blick, wie es für unsere Gesundheit wichtig und richtig wäre. Deshalb ist hier Eigenverantwortung gefragt.
- Überlege dir, was dir bei der Stressreduktion hilft und wie du Sport/Bewegung in deinen Alltag integrieren kannst.
- Organisiere für dich regelmäßigen telefonischen oder digital Austausch mit anderen.
- Wenn du ein Problem hast, dann werde aktiv und sprich es offen im Team, bei deiner Führungskraft oder einer Vertrauensperson an. Sollte das nicht möglich sein, hol dir externe Hilfe bei eine:r Coach:in oder bei deine:r Hausärztin.
- Entwickle für dich tägliche Routinen. Verordne dir regelmäßige Pausen, Essensrituale, einen radikalen Feierabend und Zeiten für etwas Bewegung.
- Lerne Strategien der Stressbewältigung und steig ein in den Kompaktkurs 21 Tage Gelassenheit.
- In diesem Blogbeitrag zum Thema Gelassenheit habe ich wertvolle Tipps für dich „Gib mir die Zauberformel für Gelassenheit“
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Mich interessiert, wie es dir speziell im Homeoffice geht. Deshalb freue ich mich, wenn du an meiner Umfrage teilnimmst. Link zur eigenen Homeoffice Umfrage
2 thoughts on “3 Wahrheiten aus dem Homeoffice über die niemand spricht”